Vorsicht bei Staatspleiten
EU-Insolvenzverfahren sind ein Spiel mit dem Feuer
VON LORENZO BINI SMAGHI
Die Staats- und Regierungschefs der EU haben
auf ihrem Gipfel vor zwei Wochen beschlossen,
den EU-Vertrag zu ändern, um einen europäischen
Krisenmechanismus zu schaffen. Dieser
soll dafür sorgen, dass der Privatsektor, also die
Besitzer von Staatsanleihen, bei der Bewältigung
einer Staatsschuldenkrise beteiligt wird. Seine
Ausgestaltung wirft wichtige Fragen auf.
Der neue Mechanismus muss zwei Ziele unter
einen Hut bringen: Das politische Ziel besteht
darin, zu verhindern, dass der Steuerzahler die
Kosten der Fehlentscheidungen des privaten
Sektors trägt. Dieses Ziel muss mit der technischen
Anforderung in Einklang gebracht werden,
das ordnungsgemäße Funktionieren der
Finanzmärkte sicherzustellen. Die Erfahrungen,
über die der Internationale Währungsfonds (IWF)
nach über 60 Jahren verfügt, zeigen: Es ist möglich,
einen Krisenmechanismus so auszugestalten,
dass keine verzerrenden Effekte auftreten und der
Steuerzahler nicht belastet wird. Diesen Weg gilt
es zu beschreiten.
Erstens kann moral hazard – der Anreiz, sich
im Vertrauen auf erwartete Rettungsmaßnahmen
disziplinlos zu verhalten – am besten dadurch vermieden
werden, dass die Bereitstellung von Hilfspaketen
an strenge Auflagen geknüpft wird. Wenn
finanzielle Unterstützung geleistet wird, sollte
diese an Strafzinsen gekoppelt sein. Es gibt hinreichend
Beispiele dafür, dass Länder den IWF
nicht leichtfertig um Finanzhilfe bitten, da sie
wissen, dass sie im Gegenzug strikte Maßnahmen
umsetzen müssen. Diese sind zudem unabdingbar,
um die Gläubiger davon zu überzeugen, ihre
Staatstitel zu halten.
Dass der Steuerzahler nicht für
private Investoren geradesteht,
kann zweitens dadurch am besten
verhindert werden, dass der Krisenmechanismus
den Status eines
vorrangigen Gläubigers erhält.
Dies bedeutet, dass gewährte Hilfen
bevorrechtigt zurückerstattet
werden. Erst danach werden die
Forderungen des Privatsektors bedient.
Da der EU-Vertrag geändert
wird, um den Mechanismus zu
etablieren, ist es möglich, ihm diesen
Status zu gewähren, den auch
die Europäische Investitionsbank
oder der IWF genießen.
Schüfe man im Rahmen des
Krisenmechanismus zudem die
Möglichkeit, Staatsanleihen zu einem
in der Krise niedrigen Marktpreis
direkt von Investoren zu
erwerben, die ihre Wertpapiere abstoßen
wollen, so könnte ebenfalls
erreicht werden, dass der private Sektor seinen
Beitrag leistet. Hier dürften die von der Weltbank
mit einer Reihe von Entwicklungsländern gesammelten
Erfahrungen hilfreich sein.
Einige sind der Auffassung, dass der Mechanismus
Regeln umfassen sollte, welche die Bereitstellung
von Finanzhilfe von einer Art automatischer
Strafe für Anleihebesitzer abhängig machen.
Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass die
Marktteilnehmer einen angemessenen Beitrag
leisten und nicht vom Steuerzahler gestützt werden
müssen. Obgleich dieser Ansatz aus theoretischer
Sicht attraktiv erscheinen mag, würde er
in der Praxis zu einer Destabilisierung der Märkte
führen und gravierende Folgen für die Volkswirtschaften
des Eurogebiets haben.
Der Grund dafür liegt auf der Hand: Sobald
die Erwartung aufkäme, dass sich ein Land um
Finanzhilfe aus dem Krisenmechanismus bewerben
könnte, entstünden Anreize, gegen das betreffende
Land zu spekulieren und auf Kursverluste
bei dessen Staatsanleihen zu setzen. Anstatt
das Land dazu zu bewegen, frühzeitig Maßnahmen
einzuleiten, die dazu führen, dass es erst gar
nicht um Finanzhilfe ersuchen muss, und die Anleihebesitzer
zum Halten ihrer Positionen zu ermutigen,
würde hierdurch die Krise herbeigeführt.
Zudem würde sich diese Krise unmittelbar auf
andere Länder ausweiten, da spekulative Investoren
darauf setzen könnten, dass diese ebenfalls
ihre Schulden umstrukturieren.
Geschickte Investoren, die auf fallende Kurse
wetten, würden also profitieren. Es entstünde eine
Art umgekehrter moral hazard. Aufgrund der Ansteckung
würde zudem die zur Vermeidung von
finanziellen Instabilitäten benötigte staatliche
Unterstützung weitaus größer ausfallen. Und
schließlich hätte die Umschuldung der Staatsschulden
Schneeballeffekte in der Wirtschaft zur
Folge. Wegen seiner Abhängigkeit von staatlichen
Garantien würde das Bankensystem des vom
Bankrott bedrohten Landes zusammenbrechen,
sofern es nicht imstande wäre, seine eigenen Verbindlichkeiten
umzuschulden.
In einer solchen Lage befand sich vor nicht
allzu langer Zeit Argentinien, als zahlreichen
Kleinsparern der Zugriff auf ihr Bankkonto verwehrt
wurde. Die sozialen und politischen Konsequenzen
einer solchen Entwicklung sind unabsehbar.
Letztendlich würde genau das Gegenteil
von dem erreicht werden, was ursprünglich beabsichtigt
war: Spekulative Investoren würden sich
die Situation zunutze machen, während viele
Kleinsparer Schaden nähmen.
Anhand der Erfahrung des IWF lässt sich
belegen, dass Umschuldungen nur
in außergewöhnlichen Fällen und in
der Regel in armen Ländern oder
aber in ehemaligen Konfliktstaaten
wie Ecuador, Elfenbeinküste, Gabun,
Grenada, Moldawien, Pakistan,
Ukraine sowie Uruguay erfolgen
und dass die Auswirkungen ziemlich
dramatisch sein können. Daher sollte
eine finanzielle Unterstützung
nicht von einer Umschuldung abhängig
gemacht werden.
Schließlich drängt sich die Frage
auf, wie der private Sektor die Risiken,
die mit den Staatsanleihen der
verschiedenen Länder verbunden
sind, richtig einstufen kann. Dies
lässt sich auf unterschiedliche Art
und Weise erreichen, unter anderem
durch mehr Transparenz und die
Verbesserung der Qualität von Statistiken.
So könnte zum Beispiel das
Statistikamt Eurostat die Prüfungsbefugnis
über nationale Statistikämter erhalten.
Dies lehnen die Mitgliedstaaten weiterhin ab.
Die politischen Instanzen Europas – insbesondere
der Ministerrat – müssen ihrer im EU-Vertrag
festgelegten Verantwortung für eine strenge
gegenseitige Haushaltsüberwachung auf Grundlage
geeigneter Statistiken und strikter Verfahren
im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes
nachkommen. Strengere Sanktionen und
automatische Regelungen – wie von der Europäischen
Zentralbank angeregt – wären der beste
Weg gewesen, eine korrekte Preissetzung an den
Märkten für Staatsanleihen zu gewährleisten.
Man kann nicht einerseits der Auffassung sein,
dass die Märkte von Profitgier getrieben werden
und für ihr Fehlverhalten bestraft werden müssen,
und ihnen andererseits die alleinige Verantwortung
für die Bewertung der Zahlungsfähigkeit von
Ländern übertragen – eine solche Vorgehensweise
wäre das Rezept für ein Desaster.